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 Robert Wyatt - Schläfer erwarcht! - Spex - Oktober 1997







Schläfer
erwacht!

Bis heute hat Robert Wyatt sich nicht an abgesteckte Claims für glänzende Songs und freie Sounds gehalten. Er ist ein Avantgardist, der beim Singen die Töne trifft, und ein Popmusiker, der keine Angst vor großen Takten hat. Seit seiner Zeit bei Soft Machine verlangte er nach Hörern, die ebenfalls zwischen Monkees und Mingus pendeln können. Nach sechs Jahren Pause ist jetzt sein Album »Shleep« erschienen.
DETLEF DIEDERICHSEN traf den Mann mit der traurigsten Stimme der Welt.

Foto: IRIS GARRELFS.


Robert Wyatt macht einen fröhlichen und gelassenen Eindruck. Er ist stolz auf seine neue Platte, und die diversen Schicksalsschläge, die ihn in seinem Leben ereilten (seit einem Unfall im Frühjahr 1973 ist er an den Rollstuhl gefesselt), hat er anscheinend gut verarbeitet. Seine Rede ist gespickt mit Witzen und Wortspielen, bisweilen verfällt er regelrecht ins Alberne, und wer ihn nur als den zerknitterten, alten Finsterling mit Rauschebart kennt, der einem etwa vom September-Cover der "Wire" entgegenblickt, ist über seinen lebensfrohen Übermut erstaunt.

Robert Wyatts neue Platte "Shleep", ein Konzeptalbum zum Thema Schlaf, ist seine beste Platte seit "Rock Bottom". Das hat man über "Old Rottenhat" und "Dondestan" zwar jeweils auch gesagt, aber diesmal stimmt es eben wieder. Seine Musik läßt sich weder mit zeitlichen, noch mit stilistischen Kategorien beschreiben. So wie seine Musik immer ähnlich und doch immer neuartig ist, so pendelt er zwischen Free Jazz, Pop und etlichen anderen Stilen, ohne sich jemals in einem niederzulassen. Dabei ist nichts, was er tut, beliebig, nichts spielerisch, sondern jede künstlerische Entscheidung wohlüberlegt. Das schlaumeierische Zitat oder die demonstrative Referenz sind seine Sache nicht. Man könnte ihn als Wegbereiter moderner Klangwelten verstehen, der ganz im Sinne gegenwärtiger Soundpropheten einer der ersten war, der mit Loops (etwa auf seiner ersten Solo-LP "The End Of An Ear", und Dub (man höre etwa "Instant Pussy" auf der ersten Matching-Mole-LP) gearbeitet hat. Andererseits stehen im Zentrum seiner Arbeit Kompositionen, also Harmonien und Melodien, und immer wieder kokettiert er damit, daß er eigentlich ein Popsänger ist: "Ein Freund sagte mir erst kürzlich: Du könntest Pop-Platten machen. Du triffst beim Singen die Töne und machst bei Popsongs eine gute Figur. Aber ich bekäme Klaustrophobie. Ich mag Pop, aber ich könnte mich nicht darauf beschränken. Ich mag MTV nicht, sowas interessiert mich nicht, es ist mir egal. Die Musik mag ich manchmal, aber die ganze Wirtschaft dahinter ist mir völlig fremd. Ich kenne Menschen, die glücklich in diesen Gewässern schwimmen, ich habe auf dieser Platte mit zwei oder drei davon gearbeitet. Aber es paßt in keiner Weise zu mir. Ich habe gehört, daß Wölfe, die zu lange vom Rudel getrennt leben, nie wieder in einem Rudel funktionieren könnten. Ich komme mir manchmal vor wie solch ein Wolf."

 > Zoom  

Ein Rudel, zu dem Robert Wyatt früher gehörte, hieß Soft Machine. Im Zeichen des Revivals von Art-, Kraut-und Prog-Rock werden sie nun auch im großen Stil wiederentdeckt. Die Geschichte der Band und seines Rauswurfs konnte man im Juni-Heft von "Mojo" lesen: "Ich sage Ihnen, wie schlimm das war, mir das Rückgrat zu brechen, war einfacher zu ertragen. So schlimm war es. "Die Trennung von Soft Machine traumatisierte ihn regelrecht: "lch habe immer noch Träume, in denen mein Rausschmiß wieder rückgängig gemacht wird und ich wieder in der Band willkommen geheißen werde. Dann wache ich auf."

Nach Soft Machine probierte Wyatt mit Matching Mole eine neue Band auf die Beine zu stellen, doch dann passierte der Unfall, und was das dritte MM-Album hätte werden sollen, wurde "Rock Bottom" - jene von Wyatts Platten, die allgemein als Meilenstein, Meisterwerk und Platte für die Insel empfunden wird. Es erschien mit "Ruth Is Stranger Than Richard" noch eine weitere Platte, dann folgte eine Zeit, in der er sich lieber aktiv in Englands kommunistischer Partei, denn als Musiker bestätigte: "Es gab dafür verschiedene Gründe. Einer war der Tod von Mongesi Feza, ein anderer mein zerrüttetes Verhältnis zu Virgin. Sie unterstützten mich nicht darin, einen Weg jenseits der Popmusik zu finden. Ich mag Popmusik, aber ich haßte diesen ständigen Druck, musikalische Kompromisse einzugehen. Ich bekam außerdem so wenige Prozente, und Studiozeit ist so teuer - es hätte zwanzig Jahre gedauert, bis ich etwas daran verdient hätte. Das nahm mir einfach die Motivati­on. Aber ich fand schon immer, daß der Kapitalismus einem die Motivation raubt, etwas Sinnvolles zu tun. Es sei denn, man ist der Kapitalist. In dem Fall ist es großartig. Leider sind die meisten von uns keine Kapitalisten, sondern arbeiten nur für welche."

Anfang der Achtziger begann Wyatt auf Betreiben von Rough-Trade-Chef Geoff Travis wieder mit dem Plattenmachen, allerdings in großen zeitlichen Abständen. Auch zwischen seiner neuen Platte "Shleep" und ihrem Vorgänger "Dondestan" liegen wiederum sechs Jahre."1992 fiel ich aus meinem Rollstuhl und brach mir beide Beine", berichtet Wyatt. "Ich mußte deswegen in so einem Rollstuhl herumfahren, wie man ihn in Komödien gelegentlich sieht, wo beide Beine gerade nach vorne ragen - in Filmen rollen diese Rollstühle meist irgendeinen Hügel hinunter, während aufgeregte Menschen hinterherrennen. Jedenfalls konnte ich damit nicht zum Piano, und es kostete mich meine Konzentration. Ein Jahr später hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Es hatte mit meinem ersten Unglück nichts zu tun, so was kann jedem passieren. Während dieser Zeit war ich zu fast nichts in der Lage. Allerdings schrieb ich zu der Zeit die Texte zu "Free Will And Testa­ment" und "Was A Friend". Außerdem litt ich unter jener Schlaflosigkeit, die dazu führte, daß Alfie den Text zu "Heaps Of Sheep" schrieb. Obwohl ich wenig tat, war es also dennoch eine fruchtbare Zeit. Es war wie bei Vulkanen: Auch wenn von außen nichts zu sehen war, bereitete sich innen einiges darauf vor, herauszukommen."

Der Tïtel "Shleep" - heißt das, daß Sie sich nicht entscheiden konnten zwischen "Sheep" und "Sleep"?

ROBERT WYATT: Das zum einen. Andererseits gefiel mir das Wort, weil es wie Phantasie-Jiddisch klingt. So reden die Cockney-Juden immer: "Money - shmoney", "Sleep -shleep". Das habe ich allerdings erfunden. Der Untertitel ist "A fat chance to dream". Alfie fiel später ein, daß Shakespeare diesen Ausdruck, "a chance to dream", als Umschreibung für Schlaf benutzt hat. ("Alfie" ist Alfreda Benge, Künstlerin, Dichterin und Wyatts Freundin seit Anfang der 70er Jahre.) Das hatte irgendwo noch in ihrem Unbewußten rumgespukt. Das sind so die Dinge, die man immer in sich trägt: Shakespeare, die Bibel... Es war Jedenfalls keine bewußte Referenz.

Die Platte beginnt ja mit einer vergleichsweise poppigen, teilweise funky Nummer: "Heaps Of Sheep". Wollten Sie den Zugang einfach halten?


Ich nicht. Es war Joe Boyds Idee, er ist der Chef von Hannibal, meinem Label, und er wünschte es sich möglichst weit vorne auf der Platte. Aber ich kann meine Platte natürlich so zusammenstellen, wie es mir gefällt. "Heaps Of Sheep" entwickelte sich zu einem rhythmisch mehr geraden, vorwärtsgerichteten Stück, als es meine Songs normalerweise sind. Das lag daran, daß Brian Eno, den ich eingeladen hatte mitzuspielen und zu-singen, so viel Spaß daran hatte, daß ich ihn fragte, ob er den Song nicht produzieren wolle. Er  gab ihm eine völlig neue Struktur. Vielleicht ist es das, was ihn so zugänglich macht. Es ist aber auch ein ziemlich simpler Song. Allerdings sind eigentlich alle meine Songs im Kern simple Popsongs. Ein weiterer Grund, warum er eine gute Eröffnung ist, ist, daß er das Thema der Platte deutlich macht, denn die meisten Lieder handeln von Schlaf, Schlafstörungen, Wiedereinschlafen, Träumen und so weiter. Da schien es passend, mit diesem Song anzufangen.¨
 
"The Duchess" mußte ich mir über Kopfhörer anhören, um seine ganze Komplexität zu bemerken. Vorher war mir die kinderliedartige Melodie und der seltsame, spielerische, fast besoffen klingende Umgang mit dem Text aufgefallen, aber erst so bemerkte ich die seltsam gegen- und miteinander wirkenden musikalischen Schichten.

Ja, ich habe den Song von der Struktur her völlig auseinandergenommen. Die Basis ist dieser alte Kinderreim: "The Grand Old Duke Of York/he had ten thousand men/he marched them up the top of the hill/and he marched them down again." Ein Witz über einen blöden General. Ich nannte den Song "The Duchess" wegen des Bezugs auf den Duke Of York und weil ich ihn schrieb, als ich mich mit Alfie betrank, und er über Alfie ist, glaube ich, die von Natur aus Aristokratin ist.

Ich habe immer diesen Effekt gemocht - Benjamin Britten hat das häufig getan -, wenn man ein Kinderlied nimmt und es aus seinem angenehmen, freundlichen Kontext herauslöst, es in ein seltsames Land verpflanzt. Normalerweise versuche ich nicht bewußt, andersartige oder interessante Musik zu   machen. Ich will nur, daß es gut klingt. Aber in diesem Fall habe ich darauf geachtet, daß jeder Teil der Musik in einem anderen Takt ist und daß der Song und die Solos in anderen Tonarten als die Keyboard-Basis sind. Ich mußte mich beim Singen enorm konzentrieren, um nicht aus Versehen in die richtige Tonart zu rutschen. Den Takt wollte ich ständig wechseln, damit es keinen Ruhepunkt gibt.

Warum haben Sie die More Extended Versions gesampelt?

Das ist meine Rache an allen, die mich gesampelt haben. Nein, im Ernst: Es ist von der Platte "Dedicated To You, But You Weren't Listening", auf der sie einige Stücke von "Rock Bottom" covern. "Maryan" und der Song danach, "Was A Friend", sind beide über das Zurückkehren nach langer Abwesenheit: Man kommt zurück, alles ist etwas anders und man fühlt sich etwas unwohl. Der Teil, den ich von den More Extended Ver­sions gesampelt habe, ist aus einem Song von "Rock Bottom", in dem ich mich bei jemand entschuldige - bei wem, weiß ich nicht mehr. Aber es schien mir die perfekte Verbindung zwischen diesen beiden Songs zu sein.

"Was A Friend" hat eine beruhigende, fast hypnotisierende Melodie, darunter köchelt jedoch eine gewisse Nervosität, die sich gelegentlich in wilden Beckenschlägen entlädt.

Ja, nur für ein Wiegenlied ist es zu geschäftig. Genau wegen dieser Dinge erschien mir "Shleep" der perfekte Albumtitel zu sein, je langer ich darüber nachdachte. Die Musik schrieb Hugh Hopper. Er schickt mir ab und zu Kompositionen, die zu simpel sind für die Jazz-Gruppen, mit denen er spielt. Seit fast vierzig Jahren nun schon benutze ich jene seiner Stücke, die für seine eigenen Zwecke zu schlicht sind, aber für meine weniger sophisticateden Bedürfnisse genau richtig. So auch dieses Stück. Im Text geht es um Scham, darüber, von Scham heimgesucht zu werden. Die Version, die Hugh mir schickte, klang nach Schlafwandeln. Das paßte nicht zu dem Text, den ich dazu geschrieben hatte. Denn darin geht es um schwere Schlafstörungen, um die Unmöglichkeit, einen heilsamen Schlaf zu finden. Es ist eher Schlaf als Strafe. Deswegen klingt es so nervös.



Sie spielen selber den Baß, der mir sehr gut gefällt.

Es hat mir auch viel Spaß gemacht. Ich wußte nicht, wen ich hätte bitten sollen, so zu spielen - ein Rock-Bassist hätte ganz anders geklungen, ein Jazz-Bassist auch. Also mußte ich es selber übernehmen. Ein paar Riffs habe ich von Charlie Haden gestohlen, muß ich zugeben, und die Idee, auf der Baß-Gitarre komplette Akkorde zu schrammeln, wie ich es hier gelegentlich tue, so drrroooongg, habe ich von Blur. Deren letzte Single beginnt nämlich mit einem Power-Akkord auf dem Baß. Was für eine großartige Idee, dachte ich mir (lacht).

Im Booklet von "Shleep" erzählen Sie die Entstehungsgeschichte von "September The Ninth" (ein Schwalbenschwarm vor dem Haus der Wyatts). Ich finde, daß die Musik diese Geschichte fast illustriert: All  diese Bläser, die sich zu Beginn des Songs, von sonstwoher kommend, langsam in dem Track niederlassen...

Absolut. Es ist nicht meine Absicht, Programm-Musik oder illustrierende Musik zu machen, aber ich denke auch nicht, daß ich hier einfach nur eine Übersetzung des Texts in Musik habe. Ich habe viel Zeit damit verbracht, vor dem Piano zu sitzen und zu versuchen, ein Gefühl für Alfies Text zu bekommen. Wir hatten es ja zusammen erlebt, es war an einem Morgen, früh um sieben, und ein Riesenschwarm Schwalben landete rund um unser kleines Haus an der Küste. Wir wachten beide davon auf und sahen uns die Szenerie vor der Tür an. Es war unglaublich, normalerweise sieht man Schwalben nur in kleinen Familien, aber hier waren Hunderte um uns herum. Wir wußten, daß es das gibt, hatten darüber gelesen und es im Fernsehen gesehen. Aber es ist etwas anderes, wenn hier zwei Leute sind, und dann sind da diese Hunderte von anderen... Leuten sozusagen, um einen herum... Sie hatten keine Angst, dazu waren sie zu eindeutig in der Überzahl, und sie hatten etwas Wichtiges zu tun. Es war ein phantastisches Erlebnis für uns beide, und ich bin nor­malerweise nicht in der Lage, solche Dinge in Worten auszudrücken. Aber Alfie schreibt wichtige und manchmal triviale Erlebnisse in ein Tagebuch, und gelegentlich arbeitet sie einen Tagebucheintrag in ein Gedicht um. Das ist dann schon die Hälfte eines Songs. Ich war besonders berührt von ihrer Aussage, daß sie, als die Schwalben davonflogen und sich wieder auf ihren Weg nach Afrika begaben, sich wünschte, sie könnte mitfliegen. Das sagt einiges über die Traurigkeit und Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz. Wir könnten sehr arrogant sein in unserer Gewißheit, am oberen Ende des Baums zu sitzen. Aber hier an diesem Morgen hatten wir das sichere Gefühl, eine überlegene Lebensform zu beobachten.

Haben Sie die Bläserparts notiert oder waren sie improvisiert?

Ich dachte dabei an jene Band von Charles Mingus ohne Trompete, mit Jimmy Knepper, Shafi Hadi und John Handy. Die Themen waren so konstruiert, etwa auf "Mingus Ah Um", daß jeder Musiker in seinem eigenen Stil spielen konnte - ich schätze mal, er hatte das von Duke Ellington. Ich war sehr froh, Annie Whitehead für dieses Stück gewinnen zu können, denn sie kann sehr flüssig, unmetallisch Posaune spielen.

Sie kann auch sehr metallisch spielen, fast wie Albert Mangelsdorff, ziemlich kräftig. Aber sie kann eben auch sehr weich spielen. Evan Parker ist sehr gut in einer Sache, die er in seinen eige­nen Bands fast nie macht, nämlich zu spielen mit einem vorgegebenen harmonischen Fixpunkt und der Freiheit, ihn zu benutzen, aber auch zu verlassen. Also fast wie Eric Dolphy: atonal spielen in einem tonalen Kontext, und zwar so, daß man immer doch die Anziehungskraft des tonalen Schwerpunkts spürt. Ich habe Evan einfach alle Freiheiten gelassen, nur als er mich fragte, ob er Tenor oder Sopran spielen soll, entschied ich mich für Tenor. Annie kam danach dazu. Zuerst wollte ich eigentlich nur, daß sie den Baß unterstützt. Aber sie wollte probieren, das Thema zu spielen, und wie sich das Arrangement am Ende  entwickelte, liegt zu einem großen Teil an ihr. Sie improvisierte ein komplettes Posaunenarrangement um die von mir bis dahin erarbeitete Struktur. Alfies Beitrag zu der Produktion des Stücks war, zu verhindern, daß ich den Klang meiner Stimme stärker verfremde, wie ich es ursprünglich vorhatte.

Bei "A Sunday In Madrid" fällt auf, wie die Vielzahl der Worte und Silben, die sehr gegenständlich verschiedene seltsame Erlebnisse in Madrid beschreiben, im Gegensatz stehen zum eher konturlosen, drony Backing.

Ja, sowas mag ich. Nicht, weil ich pervers bin, sondern einfach, weil solche Dinge, die Suche nach immer wieder anderen Rahmen, mein Interesse aufrechterhalten. Ich habe keine Lust, einen Song zu schreiben und ihn dann in den naheliegenden Kontext zu stecken. Das käme mir vor wie ein Cartoon, bei dem die Bildunterschrift nochmal beschreibt, was ohnehin zu sehen ist. Das wäre eine reine Tautologie, jede Sache sollte ihren eigenen Sinn haben.

Den Text schrieb Alfie zu einer Reihe Fotos, die sie gemacht hat, als sie mit ihrem Vater in Madrid war. Was mir daran gefiel, war, daß es sich anhört, als wäre es eine Art Reise der Halluzinationen durch eine surreale Traumlandschaft, dabei sind es absolut akkurate Bildbeschreibungen. Wir haben die Fotos, um es zu beweisen.

Als letztes Stück auf der Platte haben wir Ihre Cover-Version von Paul Wellers Style-Council-Song "The Whole Point Of No Return".

Ja, ich dachte mir, es sei besser, es instrumental aufzunehmen, denn der Text klang aus meinem Mund irgendwie nicht richtig. Er klingt richtig aus seinem. Ich wollte trotzdem gerne das Stück spielen. Ich wollte die Leute daran erinnern, daß Style Council eine Band war, die eine Menge guter Ideen hatte. Heute sagen viele, Style Council sei Pauls Phase in der Wildnis gewesen. Aber ich habe dort mein Leben verbracht; ich fühle mich sehr zu Hause in dieser Wildnis. Ich wollte mein eigenes kleines Tribut an diese Band aufnehmen und mich auf diese Weise auch bei Paul bedanken, denn er hat einige Tage Arbeit in meine Platte gesteckt, dabei war er gerade mitten in den Aufnahmen zu "Heavy Soul". Er hat von mir auch kein Geld genommen, also ist dies meine Art, zu ihm Danke zu sagen.

Auf dieser Platte sind mal wieder fast alle Gesangsparts von Ihnen selber gesungen. Hätten Sie nicht mal Lust auf ein Duett?

Nun, Alfie kommt hin und wieder dazu, so in der Art von Caspar, the friendly Ghost. Das letzte Wort von "Free Will And Testament" singen wir sogar zu dritt: Alfie, Paul Weller und ich. Unser kleines Tribut an die Ikettes. Aber sonst singe ich tatsächlich fast alles selber. Ziemlich onanistisch, nicht wahr? Nun, "Heaps Of Sheep" ist so eine Art Duett mit Brian Eno, zumindest singt er sehr viel darin. Darüberhinaus gibt es eine ganze Menge Leute, mit denen ich gesungen habe oder singen möchte. Die meisten sind tot. Aber einige leben noch.

Zum Beispiel?

Was jetzt - die Lebenden, die Toten oder die dazwischen?

Fangen wir mal mit den Lebenden an.

Ich fand immer die Idee gut, mit einer Frau zusammen zu singen. Ich liebe die Sachen von Marvin Gaye und Tammi Terrell. Jahrelang hatte ich Anette Peacock im Hinterkopf. Aber ich verrate solche Dinge lieber nicht, bevor ich's tatsächlich tue. Im Fall von Anette habe ich das getan, und dann las sie es in einer Zeitschrift, bevor ich mit ihr persönlich darüber reden konnte. Jedenfalls ist es nie dazu gekommen. Also behalte ich weitere Ideen lieber für mich. Mir gefällt, wenn Alfie die tiefere Stimme singt und ich die höhere. Das klingt cool.

Was mir noch auffiel, als ich gestern direkt hintereinander "The End Of An Ear" und "Shleep" hörte: Man kann beide Platten keiner Ära zuordnen, man kann noch nicht mal sagen, wieviel Zeit zwischen ihnen liegt oder welche von den beiden die neuere Platte ist.

Es freut mich, das zu hören. Ich habe nie an Fortschritt in der Musik geglaubt: Wagner ist nicht besser als Mozart, Coltrane nicht besser als Louis Armstrong, Paul Weller nicht besser als Jimi Hendrix. So funktioniert das nicht. Es läuft eher so, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt jemand seine Stimme findet. Und dann geht es nur darum, ob es authentisch ist oder nicht. Und was authentisch ist, ist außerhalb der Zeit. Das fiel mir auch auf, als wir in Italien waren: Die am frischesten aussehenden Bilder waren die ältesten. Oder schauen Sie sich alte ägyptische Bilder an. Wurde ein neuer Maler so malen, und hätte es diese Bilder vorher nie gegeben, würde er eine Revolution in der Kunstwelt auslösen. Aber es ist die Malerei des alten Ägypten. Wenn man also über meine Musik sagt, sie sei zeitlos, empfinde ich das als sehr großes Kompliment.

Man könnte Ihnen aber auch vorwerfen, daß alles, was sich seit "The End Of An Ear" musikalisch getan hat, von Ihnen anscheinend nicht wahrgenommen wurde.

Doch, wurde es, aber... Gerade gestern fragte mich jemand, was ich von Drum'n'Bass halte. Es war ein Mißverständnis: Ich dachte, er meinte diese großartige Platte von Charlie Haden und Ed Blackwell in Montreal. Aber das ist für mich auch neue Musik, und es ist schade, daß nicht mehr Leute diese Platte gehört haben. In jedem Fall vermeide ich es nicht bewußt, beeinflußt zu werden. Wie gesagt: ich habe ein Baß-Riff von Blur geklaut.

       
     
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