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Robert Wyatt Gilad Atzmon Ros Stephen - Platten sind wie Tattoos - Jazzthing & blue rhythm - Nummer 86 - November 2010-Januar 2011
PLATTEN SIND WIE TATTOOS
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Drei Musiker, drei Backgrounds, drei Studios, drei Aufnahme-Sessions. Songwriter-Legende Robert Wyatt, Jazz-Grenzgänger Gilad Atzmon und die zwischen Klassik und Tango changierende Geigerin Ros Stephen verbindet auf den ersten Blick wenig. Und doch haben sie unter dem Motto „For The Ghosts Within" (Domino/Groove Attack) gemeinsam ein Album von schockierender
Schönheit aufgenommen.
TEXT WOLF KAMPMANN FOTO ELKE MEITZEL
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Robert Wyatt, Gilad Atzmon und Ros Stephen: Die drei Ungleichen interpretieren Jazzklassiker von Monk, Parker und Ellington, geben auch einige Songs aus Wyatts langer Laufbahn sowie neue Stücke zum Besten und beschließen das Ganze mit einer wirklich herzergreifenden Version von „What A Beautiful World". Doch der ultimative Wohlklang des Albums wird von elektronischen Störgeräuschen durchzogen, es wird sanft gerappt, und der kulturelle Bogen ist weit gespannt. Hart an der Grenze zum Kitsch, wird diese unsichtbare Demarkationslinie aber zu keinem Zeitpunkt überschritten. Man ist eher an eine genuine Mischung aus experimentellem Jazz und Wiener Salonmusik um 1900 erinnert. Im Rückgriff auf das Vertraute klingt diese CD nicht nur neu und ungewohnt, sondern entwirft im Klang eine Utopie vom Frieden im Zeitalter der Gegensätze. Für den Israeli Gilad Atzmon ein zentrales Anliegen. Dieser nahezu perfekten Klangwelt liegt jedoch ein langer Prozess in mehreren Etappen zugrunde.
Wusstet ihr von Anfang an, worauf ihr euch mit diesem Album einlasst?
Ros Stephen: Wir hatten keine Ahnung. Robert und Gilad hatten ja schon seit einiger Zeit miteinander gearbeitet. Kürzlich haben aber auch Gilad und ich gemeinsam ein Tango-Album aufgenommen. Das hat großen Spaß gemacht, und wir suchten nach neuen Ideen. Wir dachten an einen Sänger, der die Streicher und die Jazzgruppe ergänzt. Unsere Wahl fiel instinktiv auf Robert. Ich arrangierte ein paar seiner Songs für Streichquartett, damit er eine Ahnung bekam, wohin die Reise geht. Am Ende hatten wir eine lange Liste möglicher Stücke. Von da an arbeitete ich zielgerichtet an den Streicherparts, denn das war die Grundlage, die aufgeschrieben werden musste. Es war nicht einfach, uns drei an einen Tisch zu bekommen. Ich lebe in Bristol, Robert in Lincolnshire und Gilad in London. Wir konnten uns nicht einfach mal so besuchen und wieder zurückfahren. Deshalb erfolgte die Kommunikation hauptsächlich
per E-Mail und Telefon. Ich schickte Ideen an Robert, und er schickte seine Ideen zurück an mich. Es dauerte über ein halbes Jahr, bis wir überhaupt mit den Aufnahmen beginnen konnten.
Gilad Atzmon: Der entscheidende Moment war, als Robert seinen Part aufnahm. Es bedurfte nicht mehr als vier Takte, um zu realisieren, dass wir etwas ganz Spezielles haben. Diese Kombination aus Roberts einzigartiger Stimme mit einem eher konventionellen Klanghintergrund war fantastisch. Von da an ging es darum, dieser Verbindung eine Form und tiefe Bedeutung zu verleihen.
Eure individuellen Stimmen verschmelzen ja derart, dass Saxofon und Gesang sich kaum noch voneinander abheben.
Robert Wyatt: Wenn man vertrautes Material benutzt, fließen unweigerlich all die Interpretationen ein, die man von diesem Stück kennt. Davon versuchte ich mich freizumachen. Unabhängig von all den Stilen und Haltungen, die mit den Stücken verbunden waren, hinterfragte ich ihre Essenz. Ich fragte mich: Was sagt uns eine Melodie, die Duke Ellington in den Dreißigern geschrieben hat, heute? Noten und Akkorde selbst sind absolut zeitlos. Sie gehören nicht zu bestimmten Epochen oder Jahrzehnten, auch wenn wir sie damit assoziieren. Sie sind einfach da. Ros verstand die harmonischen Implikationen der Stücke. Sie spürte, was an ihnen schön und wichtig ist. Und Gilad mixte die Stücke, als wäre keine dieser Melodien je zuvor gespielt worden.
GA: Die Songs oder Alben, die das Verhältnis von Stimme und Solist am besten herausstellen - ich denke an Coltrane mit Johnny Hartman oder Cannonball mit Nancy Wilson -, repräsentieren etwas in der amerikanischen Kultur, das sich von der britischen Kultur grundlegend unterscheidet. Im Amerika jener Epoche waren fast immer alle Beteiligten daran interessiert, dem gesamten Song eine umfassende Bedeutung zu verleihen. Für mich als Saxofonist ist es eine immense Herausforderung, mit meinem Instrument die Stimme zu unterstützen und die Lücken zu füllen, anstatt ununterbrochen im Fokus zu stehen. Da das Saxofon und die Stimme auf diesen wundervoll arrangierten Streichern ruhen, nähern sich beide Elemente einander an und besetzen dasselbe Terrain. Das ist nicht ganz ungefährlich. Wir hatten es mit nostalgischen Melodien und nicht ganz unnostalgischen Arrangements zu tun. Das galt es hin und wieder zu durchbrechen. Ich wusste jedoch nicht so recht, wie. Schönheit beruht immer auf dem Wechselverhältnis von Konsonanz und Dissonanz. Konsonanz ist Kontinuität, Dissonanz ist Unterbrechung. Wenn etwas zu konsonant wird, ist es Kitsch, ist etwas zu dissonant, führt es nirgendwo hin. Die Nostalgie dieses Albums entfaltet nur ihre Wirkung, wenn es immer wieder Elemente gibt, die uns aus ihr auch herausreißen.
Warum habt ihr so viele Standards aufgenommen?
RW: Mit vielen dieser Songs lebe ich seit Jahrzehnten, aber ich kannte nur die instrumentalen Versionen von Jazzmusikern. Erst kürzlich hörte ich die Vokalversionen. In meiner Jugend hätte ich es strikt abgelehnt, die Songs auf diese Weise zu singen. Da liebte ich es eher rau und hart. Aber die Musiker, die damals Sänger begleiteten, zum Beispiel Nelson Riddle, hatten fundamentale Ahnung von Harmonik. Ich habe die Songs mit Ros und Gilad aufgenommen, weil ich wusste, dass auch sie diese Fähigkeiten haben, ein Stück auf seine Substanz zu reduzieren. Dieses Wissen gibt dir Freiheit und Sicherheit. Als ich meinen Part einsang, wusste ich, dass nichts schief gehen kann. Wie ein Rennfahrer, der weiß, dass er ein Rennen gewinnen wird.
Trotzdem habt ihr eure Parts ja unabhängig voneinander aufgenommen.
RW: Die Streicher mussten einfach zuerst aufgenommen werden. Das Studio, in dem ich meine Aufnahmen machte, ist zu klein, um ein ganzes Quartett aufzunehmen. Da können Rockgitarristen separat ihre Gitarrenparts einspielen. Ich arbeite dort oft allein. Für mich war das großartig, denn ich musste den Motor nicht anwerfen. Wenn ich den Kopfhörer aufsetzte, war die Musik schon da. Ich musste nicht mehr tun, als an Bord zu gehen.
Dafür klingt das Ganze aber erstaunlich organisch.
GA: Vielleicht waren wir Narren, als wir mit dieser Produktion begannen, vielleicht hatten wir am Ende einfach großes Glück. Es ist sehr ungewöhnlich, ein solches Projekt aufzunehmen, ohne dass der Sänger wenigstens die Melodie vorsingt. Als das Streichquartett seine Parts aufnahm, habe ich teilweise gesungen, und ich bin wahrlich nicht der beste Sänger.
RW: Das hat auch Vorteile. Ich trete ja nie live auf, sondern nehme ausschließlich Musik im Studio auf. Im Studio kann man improvisieren und diese Momente dann einfrieren. Irgendwann komme ich hinzu und lerne diese Augenblicke. Ich habe also Teil an einem improvisierten Prozess, kann aber dennoch auf meine Weise etwas beisteuern. Was da genau vorgeht, lässt sich nicht in Worte fassen. Ich brauchte nicht mehr rational zu denken, als ich diese Stücke sang. Ich war ganz woanders. Beim Essen und Sex hat man keine Anleitung, sondern es passiert einfach. So ist es auch beim Singen.
GA: Es war ganz klar, dass wir in diesem Projekt unterschiedliche Rollen innehatten. Ros war für die Arrangements und die Grundstimmung verantwortlich, Robert steuerte mit all seiner Erfahrung - er ist ja vor allem ein Produzent -den Gesang bei. Wenn er mit etwas nicht glücklich ist oder seinen Gesang nicht angemessen findet, wird er das unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Er ist dann zwar sehr höflich, weiß aber genau, was er will. Und niemand wird ihn vom Gegenteil überzeugen. Ich habe die Lücken aufgefüllt und das Album gemixt und somit fertiggestellt. Ros schrieb die Arrangements, wir trafen uns, Robert übernahm - und dann zerstörte ich die Aufnahmen komplett auf meine Weise. Vor zehn Jahren hätte der ganze Prozess in einem Studio ablaufen müssen, aber dank der aktuellen Technologie können wir diese Vorgänge separieren. Es ist viel billiger, wir können viel mehr experimentieren, und vor allem geraten wir uns dabei nicht in die Haare.
RW: Platten sind wie Tattoos. Wenn man sich „I love Lucy" in den Arm ritzt, sollte man auch aufpassen, dass man Lucy bis an sein Lebensende liebt. Ansonsten könnte es irgendwann Probleme geben. Mit Platten ist es genauso. Wenn man etwas auf Platte festhält, ist es für alle Zeiten da. Daran möchte ich aber bei der Arbeit gar nicht denken. Ich will mich nicht an schlechte Dinge gewöhnen, nur weil ich sie mir oft genug angehört habe. Wenn mir einmal etwas nicht gefällt, wird es mir auch später irgendwann nicht gefallen.
GA: Wichtig ist Transparenz. Manche Stücke klingen sehr kompliziert, aber ich finde sie einfach, weil sie transparent sind. Charlie Parker ist ein gutes Beispiel dafür. Jede Note ist klar. Auch Coltrane ist ungeheuer komplex, aber trotzdem bleibt es transparent. Eine Melodie wie „Giant Steps" kann ich singen. Auch Roberts Gesang ist sehr kompliziert, manche Harmonien sind sehr anspruchsvoll. Aber sie sind immer transparent. Sicher vermag Ros auf dem Computer Sachen zu schreiben, die niemand spielen kann. Jeder Musiker kann das heute. Niemand versteht diese Musik, aber sie existiert trotzdem. Wir nennen das in England Muso. Ich hoffe, es gibt nicht einen einzigen Muso-Moment auf der Platte. Zwar haben wir ausgefallene Rhythmen, aber ich komme eben aus dieser Art von Kultur. Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen, aber wir teilen diesen unanfechtbaren Glauben an Einfachheit und Transparenz.
Also habt ihr dieses Level an Vervollkommnung durch verschiedene Stufen von Improvisation und Dis-Improvisation erreicht...
RW: Dazu brauchten wir viel Sensibilität füreinander. Es gibt Linien, die von einem Level zum anderen führen. In den Stücken offenbart sich ein bestimmter Raum, aber dahinter verbirgt sich stets noch ein weiterer Raum. Es geht um Licht. Jeder Song wird von drei unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Gilad, Ros und ich bringen uns mit unserer ganzen Kreativität ein, aber es ist weder Gilads Album noch Ros' oder meines.
Viele Jazzstandards haben ja ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, weil sie immer wieder gespielt werden und statt der Essenz nur die Hülle übrig bleibt. Wenn ihr sie spielt, bewahren sie ihre zeitlose Qualität und klingen trotzdem neu.
RW: Ein Song von Thelonious Monk ist wie ein Panzer konstruiert. Er ist so stark, dass man nahezu alles damit machen kann. Man wird ihn niemals zerstören. Viele Interpreten singen dennoch nicht den Song, sondern den Stil. Das ist ein Problem. Ich will nicht in irgendeinem Jazzmagazin lesen, dass wir eine weitere verdammte Band sind, die diese Standards neu interpretiert. Ich will mich vor der Hektik des Augenblicks schützen und etwas zum Ausdruck bringen, das ich noch nie zuvor gehört habe. Ich will nichts hören als die reine Musik. Unter all den Konnotationen, Stilen und Kommentaren steckt irgendwo der Song. Lasst uns an diesen Punkt vordringen. Es ist paradox, aber die Dinge, die uns am vertrautesten erscheinen, sind manchmal viel schwerer zu ertragen als die neuesten Sachen.
GA: Heidegger sagte: Man kann die Nase nicht sehen, weil sie zu nah ist. Diese Songs gehören zu den besten Stücken des 20. Jahrhunderts. Es ist verblüffend, wie viele Musiker die Schönheit dieser Lieder verfehlen. Ich selbst höre keinen Jazz mehr. Ich will nicht sagen, dass es keine großen Musiker mehr gäbe, aber ich habe genug an Coltrane und Cannonball. Für die Jahre, die mir noch bleiben, will ich jene Unschuld zurückgewinnen, die ich empfand, als ich mich in diese Kunstform verliebte.
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