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 Fuck You, Donald Rumsfeld! Robert Wyatt - Spex N° 272 - Dezember 2003


Fuck You, Donald Rumsfeld!

Im September 1991 trat ich meinen Zivildienst in der ambulanten Altenpflege meines Heimatdorfs an. Nach drei Wochen starben plötzlich, aber nicht ganz unerwartet, fast alle Patienten meiner Schicht. Dadurch war ich nicht nur zum ersten Mal in meinem Leben massiv mit dem Tod konfrontiert, sondern hatte auch noch eine Menge freier Zeit. Was also tun, um nicht zu sehr ins Grübeln zu kommen? Am sinnvollsten schien mir damals, mit meinem alten 200D zur Filiale einer Elektrokaufhauskette zu fahren, die auf halber Strecke zwischen unserem Dorf und der nächstgrößeren Stadt neu eröffnet hatte. Dort gab es eine extrem gut sortierte Tonträger-Abteilung und so begann ich, mich in meinen freien Stunden von A bis Z durch die CD-Regale zu hören. Als ich eines Tages bei »S« angekommen war, hörte ich zum ersten Mal die Stimme von Robert Wyatt. Die CD hieß schlicht «Volumes 1 & 2«, die Band The Soft Machine; hier war Wyatt Ende der 60er Schlagzeuger und Sänger. Und ich hörte diese Stimme, die Wyatts Mutter einmal mit den treffenden Worten charakterisierte: »lt sort of gets you in your solar plexus". Sie ist mir danach nie wieder aus dem Ohr gegangen - vielleicht weil die ihr innewohnende Melancholie und Traurigkeit zu meinem damaligen Zustand passte.

In dem Monat, der auf diese erste Begegnung folgte, wurde Wyatts Album »Dondestan« veröffentlicht (was u.a. in SPEX mit einem großen Artikel gewürdigt wurde - schon komisch, 12 Jahre später hierzu sitzen und einen ähnlich Artikel zu schreiben ...). In der folgenden Zeit kaufte ich alle verfügbaren Aufnahmen mit Wyatts Stimme, und so erschloss sich nach und nach auch seine Lebensgeschichte. In den späten 60ern als einer der innovativsten Schlagzeuger Englands gefeiert, brach sich Wyatt 1973 bei einem Sturz aus einem Fenster während einer Party das Rückgrat und sitzt seitdem im Rollstuhl. Wyatt sprach im Nachhinein oft von der Notwendigkeit des Sturzes - er habe ihn gezwungen, sich auf seine eigentlichen Stärken zu besinnen: sein Songwriting und seinen Gesang. Im Laufe seiner Solo-Karriere mutierte Wyatt vom introspektiven Eigenbrödler («Rock Bottom«, 1974) zum multikulturellen Jazzer (»Ruth Is Stranger Than Richard", 1975) zum politischen Aktivisten (»Nothing Can Stop Us«, 1982, »0ld Rottonhat«, 1985); nach seinem Rausschmiss aus der kommunistischen Partei Englands wieder zum Eigenbrödler («Dondestan«, 1991) und plötzlich zur durch Namedropping unter Kollegen hip gewordenen Ikone (»Shleep«, 1997). Sein neues Album »Cuckooland« vereint all diese Ansätze, ist geradezu ein Kompendium all dessen, was Robert Wyatt ausmacht. Und natürlich steht auch hier wieder seine Stimme im Vordergrund.

12 Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihr treffe ich an einem sonnigen Septembernachmittag in London den Menschen, zu dem diese Stimme gehört. In einem Cafe sitzt Zeitung lesend ein ergrauter Mitt-50er, dessen Bart und lange Haare ihn für eine Rolle in »Der Herr der Ringe« prädestiniert hätten. Wir kommen sofort ins Gespräch, Wyatt ist die Sympathie und die Unkompliziertheit in Person, Bei ihm ist seine Frau Alfie, die Coverart sowie 50% der Texte zum neuen Album beigesteuert hat.



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»CUCKOOLAND« IST MIT GESCHLAGENEN 75 MINUTEN DAS LÄNGSTE ROBERT WYATT-ALBUM EVER. WAS IST PASSIERT?
Robert Wyatt: Es hätte noch langer sein können, einige Songs musste ich sogar kürzen. Außerdem werde ich in ein paar Jahren 60, und ... die Zukunft ist Jetzt; alles, was ich noch machen will, muss ich jetzt machen.

EIN SONG AUF DEM ALBUM HEISST »OLD EUROPE». IN IHM BESCHREIBST DU PARIS IN BEN FRÜHEN 50ERN, EINEN JAZZCLUB UND DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN MILES DAVIS UND JULIETTE GRECO, WAS BEDEUTET DIR DAS?
RW (stolz, affirmativ): Alfie und ich waren gerade in »0ld Europe». Und ich bin
mit meinem Herzen noch immer in dem Old Europe, das im Song vorkommt.
Ich war natürlich zu Jung, um zu der beschriebenen Zeit in dem Jazzclub zu
sein. Der Titel bringt mich zum Lachen, weil er natürlich sagt: ... and fuck you,
Donald Rumsfeld!

Alfie: And thank you, Joschka Fischer, (beide lachen)

RW: Wo wir schon mal dabei sind: Nicht nur in Europa ist Kultur entstanden,
jeder Ort der Welt hat eine eigene Kultur hervorgebracht. Aber die Ironie der
augenblicklichen Situation ist, dass Europa oft ein Zufluchtsort für Künstler
aus Amerika war, die zu Hause nicht sonderlich geschätzt wurden. Jazz ist ein Beispiel dafür. Europa kümmert sich um einige Träger der amerikanischen Kultur besser als die Amerikaner selbst. Und wenn ich mich wiederholen darf: Fuck you, Donald Rumsfeld! (lacht) Du bist Europa etwas schuldig! Du solltest dankbar sein. Ich weiß, es klingt fast opportunistisch, so etwas zu sagen. Aber ich habe mich noch nie so europäisch gefühlt.

AUF DEM TITELTRACK IST DIE KUCKUCKSMUTTER NICHT ALS EIGENNÜTZIGE PERSONLICHKEIT PORTRÄTIERT, DIE IHR El IN FREMDE NESTER LEGT, DAMIT SIE SICH NICHT WEITER DARUM ZU KÜMMERN BRAUCHT, SONDERN ALS EINE PERSÖNLICHKEIT, DIE VOM VERLUST DES EIGENEN KINDES STARK BERÜHRT WIRD, DIE ABER GLEICHZEITIG NICHT AUS IHRER HAUT KANN, IHREN INSTINKTEN BLIND GEHORCHEN MUSS.
RW: Ich fand dieses Gedicht von Alfie. Sie schrieb es, als sie einen Kuckuck beobachtete.

A: Dieser Kuckuck kam zwei Wochen lang jeden Tag. Er suchte im hohen Gras nach Würmern. Als ich ihn zuerst sah, dachte ich: Oh Gott, der blöde Kuckuck. Aber dann begann ich, über sein Leben nachzudenken. Mir wurde klar, dass die Kuckucksmutter nach Afrika fliegt, bevor ihr Baby geboren wird, und dass das Kuckuckskind seine leiblichen Eltern nie kennen lernen wird. Ich dachte: Was für ein schrecklicher Lebensanfang. Ich fühlte schließlich Sympathie für den Kuckuck und mir wurde klar, wie oft man Menschen, die man nicht wirklich kennt, aburteilt, ohne zu wissen, welche persönlichen Tragödien hinter ihrem Verhalten stehen.

RW: Ich sage das nicht, weil sie hier ist, aber: Dieses Album würde ohne Alfies Input wahrscheinlich nicht existieren. Vor allem, weil meine Texte in den letzten Jahren kürzer und kürzer geworden sind. Ich ersetze sie durch mäandernde kleine Trompeten-Melodien. Das Kornett ist eher eine Verlängerung meiner Stimme. Ich habe in den letzten 20 Jahren eine halbe Oktave an Umfang verloren. Aber ich will keine Platte machen, die sich komplett in der unteren Mitte des Notensystems abspielt. Also ersetze ich die fehlenden Töne mit dem Kornett. Du musst es sehr exakt spielen - ok, ich finde immer einen Weg, schludrig mit den Dingen umzugehen - aber du kannst nicht einfach sagen: Na, irgendwo da oben wird der Ton schon sein, so wie du das mit der Stimme machen kannst.

DEINE STIMME IST OFT ALS DIE TRAURIGSTE STIMME, DIE JEMALS AUFGENOMMEN WURDE, BEZEICHNET WORDEN.
RW: Ich bringe nie vorsätzlich irgendeine spezielle Emotion in meinen Gesang mit ein - ich versuche lediglich, die Töne zu treffen und ein Kanal für musikalische Ideen zu sein. Welche Emotionen bei den Hörern entstehen, kann ich nicht vorherbestimmen. Ich liebe es, Spaß zu haben. Trotz der ganzen Tragödien, die um uns herum geschehen, ist das Größte, was ich sehen kann, eine Komödie überdimensionalen Ausmaßes. Aber ich kann den Menschen nicht diktieren, was sie hören sollen - oder was sie fühlen sollen. Das ist nicht meine Aufgabe

AUF DEM ALBUM GIBT ES EINE MENGE SONGS ÜBER BOMBEN.

RW: Alfie und ich leben in «Bomber County«, Lincolnshire. Früher gab es dort nur Felder - heute sind die Hälfte der Felder Startbahnen. Ok, ich übertreibe - aber das tun Künstler nun mal. Während wir das Material für diese Platte vorbereiteten, konnten wir das Brummen der Düsen vernehmen, als eine weitere Generation von mutigen Helden auszog, den »Ausländern« eine Lehre zu erteilen. Es war in der Luft, du hast es in der Nase gespürt. Schrecklich. Es ist aber auch schrecklich, wie die Presse sich gierig auf dieses Thema stürzt. Ich denke, das ist auch Teil der menschlichen Natur. Und wenn ich das denke, dann werde ich traurig.

DA KOMMT DER KUCKUCK IN UNS ALLEN ZUM VORSCHEIN.
RW: Absolut.


Text und Foto : Ralf bei der Kellen


»Cuckooland« von Robert Wyatt ist bereits via Hannibal Records/Indigo erschienen.

       
     
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